Damals, als das Wünschen noch geholfen hat und den Menschen so manches Zaubermittel geschenkt wurde, damals, als viele in der Natur wie in einem Buch lesen konnten und einige Auserwählte mächtige, magische Sprüche wussten, da lebte in Going am Wilden Kaiser ein armer Bauernbursch, der rechtschaffen und fleißig war, aber keinen Kreuzer in der Tasche hatte.
Als jüngstes und zehntes Kind vom Hüttlinger schlug sich der Karli so recht und schlecht mit Gelegenheitsarbeiten durch und verbrachte jede freie Minute in seinem geliebten Koasagebirge. Durchs Hüttlmoos oberhalb von seinem elterlichen Hof gelangte er schnell hinauf zur Niederen Regalm und weiter durch steil ansteigendes Gelände zum Schleierwasserfall. Dort schritt Karli durch den dünnen Wasservorhang, der von der leicht überhängenden Wand herabperlte und setzte sich in den Raum dahinter an den kühlen Felsen.
Die drei seltsamen Gestalten
So kam es, dass er hinter der Wasserwand verborgen drei seltsame Gestalten vor dem Schleierfall Rast einlegen sah. Die drei Männer waren, von kleinem Wuchs mit dunklem, wirrem Kopfhaar. Sie sahen südländisch aus mit ihren sonnengebräunten Gesichtern und sprachen ein unverständliches Kauderwelsch. Gern hätte sich der Karli zu ihnen gesetzt, aber er traute sich nicht und so folgte er ihnen leise und unbemerkt, als die drei Gesellen ihren Weg fortsetzten.
Sie kraxelten vom Wasserfall hinauf bis sie zur Granderalm gelangten. Auf dem Rücken trug jeder einen großen Sack und eine Keilhaue.
„Aha, Stoasuacher sand die Mander“, dachte der Karli bei sich, als er ihnen vorsichtig nachschlich.
Als wäre ihnen der Weg schon vertraut marschierten die drei Fremden weiter bis sie zum Ursprung des Schleierfalls kamen. Dort legten die Wanderer ihr Gepäck ab. Karli beobachtete, wie die Gruppe allerhand Gerätschaften auspackte. Kein Zweifel, es waren die Kaisererze, auf die sie es abgesehen hatten. Mit ihrem Werkzeug machten sich die Drei nun wieder auf den Weg und Karli wurde Zeuge, wie die Wunschelrute der Männer plötzlich an einer Stelle im Fels heftig ausschlug. Da strich einer von ihnen mit einer großen Schlüssel über die Wand und Karli konnte es aus dem Stein aufblitzen sehen. Dort setzten die Erzsucher nun ihre Hauen und Hämmerchen an und schlugen eine Gesteinsader frei.
Karli hatte fürs Erste genug gesehen. Tief in seinen Gedanken stieg er hinunter ins Tal und überlegte, wie er es anstellen sollte, um auch an die Schätze des Berges zu gelangen.
Geschichten von der fernen Stadt
Bei seinem nächsten Besuch auf der Lichtung über der Granderalm machte er sich gar keine Mühe, unbemerkt zu bleiben, im Gegenteil, er schlenderte schnurstracks auf die überraschten Fremden zu, die zuerst den Karli und dann den toten Hasen anstarrten, den er an den Läufen hielt.
„Griaß enk mitanand“, sagte Karli laut und deutlich in die Runde, „kun oana von enk deitsch?“ „Si, un pocco, a bissl wenig“, gab einer der drei Mander zurück. „I hob enk an Braten mitbracht.“ sagte er und hielt den zugereisten Bergbewohnern das tote Tier hin.
Die griffen schnell danach und stellten sie sich dem Karli vor. „Gianluca, Pietro und Salvatore, wir kommen über die Berg von Venetia. Im Gold der Abendsonne nahm Karli inmitten der Männer Platz und ließ sich von ihnen funkelnde Geschichten erzählen von der fernen Stadt am Meer, wo die besten Goldschmiede, feinsten Edelsteinschleifer und begabtesten Glasbläser am Werk waren. Für die Herstellung brauchten die Künstler Edelsteine. Um diese edlen Steine zu beschaffen, zogen Steinschürfer wie sie durch ihre heimatlichen Dolomiten, aber auch weiter über die Hohen Tauern ins Salzburger und Tiroler Land. Im Vorjahr waren sie, von den Einheimischen unbemerkt, auch erstmals ins Kaisergebirge eingestiegen und hatten hier droben diesen Kraftplatz entdeckt.
„A Kroftplotz?“ rief der Karli verwundert und kratzte sich ungläubig am Schädel. „Si si!“ beeilte sich Salvatore zu erklären, „schau diese Goldbrunnen ist wie eine Tor in Berg hinein. Musst du haben Schlüssel zum Aufmachen."
„Komm morgen zu Plenilunio, zu volle Mond, dann Berg zeigt dir seine Geheimnis“
Der Zauberstein
Am folgenden Abend kletterte Karli rechtzeitig vor Sonnenuntergang eilig den steilen Weg hinauf. Diesmal erwarteten ihn die Steinsucher bereits. Als sich die Sonne im Westen senkte und ihre funkelnden Strahlen auf den kleinen Quellwasserfall trafen, gab Salvatore dem staunenden Karli einen klaren, gezackten Bergkristall in die Hand. „Is Geschenk für dich, Zauberstein, zum in Berg schauen“, erklärte er dem verdutzten Karli. „Jetzt du sagen eine Spruch, dann Kristallo hört und hilft suchen.“
Das orange leuchtende Licht hüllte die Männer verheißungsvoll ein, da drehte sich Karli um, hielt den Bergkristall auf den Wasserstrahl gerichtet, der wie flüssiges Gold schimmerte, und sagte mit lauter Stimme:
„Goldtropf, Goldtropf rinnst aus dem Stein, führst mi hinein geschwind, geschwind, wo i deine Schätze find!“
Als der Vollmond sich über ihren Köpfen über die Maukspitze schob, brach die kleine Truppe auf. Bald erreichten sie eine felsige Stelle, wo Pietros Wünschelrute ausschlug. Gianluca strich mit einer großen goldenen Schlüssel über die Wand. Augenblicklich zeichneten sich darauf feine Adern, die im Mondlicht hell funkelten. Dann machten sich die drei Schürfer ans Werk, um die Erze herauszuschlagen. Karli gingen fast die Augen über und als er selbst, seinen Kristall über den Felsen streifte, konnte er, wie durch ein Fenster in den Stein hineinschauen und sah, wo die Quarzadern verliefen.
In dieser Nacht lernte der junge Goinger von den Venetianern nicht nur das Handwerk des Steinschürfens, sondern er erhielt als einziger Einheimischer am Wilden Kaiser mit dem Kristall einen Zauberschlüssel ins Innere des großen Berges.
Der Stoana Karl
Seit dieser Nacht verschrieb sich Karli mit Haut und Haar dem Steinsuchen, das ihm bald gutes Geld einbrachte und unter den Dörflern, Bewunderung und Respekt verschaffte. Freilich wusste keiner von dem einzigartigen Werkzeug, das dem Stoana Karl, wie er nun anerkennend genannt wurde, den Weg zu den Bodenschätzen wies.
Seine Freunde aus Venedig waren im Herbst so heimlich wieder nach Süden verschwunden, wie sie gekommen waren und kehrten auch nicht mehr ans Kaisergebirge zurück. Karl aber verbrachte noch viele Sonnenuntergänge allein beim Goldtropf, wenn er von seinen Streifzügen zurückkehrte.
Als er schließlich hochbetagt das Ende seiner Tage nahen spürte, stieg er ein letztes Mal langsam hinauf, vorbei am Schleierfall zu dessen Quelle, wo er sich im Licht der Abendsonne im Gras niederließ und den Bergkristall zu den Gipfeln des Wilden Kaisers emporhielt.
„Goldtropf, Goldtropf rinnst aus dem Stein, lass mi hinein und für immer drinnen sein!“
Dann streckte er sich aus, legte sich den Stein auf die Brust und schloss seine Augen. Karl kehrte nicht mehr ins Tal zurück und als man ihn auch nach langer Suche weder im Dorf noch am Berg fand, hieß es, der Stoana sei wohl bei seinem letzten Ausflug abgestürzt.
Doch tatsächlich hatte sich der Karl in einen Berggeist verwandelt, in ein kleines, graues „Venedigermandl“, das die Schätze im Inneren seines geliebten „Koasas“ hütet und beschützt. Und wenn man es genau bedenkt, waren vielleicht auch Gianluca, Pietro und Salvatore solche Venedigermandl und guten Geister, die sich dem armen Karli gezeigt haben und zu seinem Glück verhalfen.
Hört liebe Leut‘ die Moral von der Geschicht:
„Gold und Silber, Edelstein machen reich und funkeln fein. Doch ein gutes Herz wiegt mehr, schenkt allen Freude und leuchtet sehr!“
Von Sabina Moser nach Motiven einer Sage, erzählt vom Goinger Dorfwirt Balthasar „Hauser“ Hinterholzer
Die Filmemacherin, Buchautorin und ehemalige Journalistin kümmert sich in Ellmau um die Chronik und Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde. Dabei fotografiert die gebürtige Kitzbühelerin auch leidenschaftlich gerne. Besonderen Spaß hat es ihr gemacht, alten Legenden aus den Gemeinden am Wilden Kaiser nachzuforschen und sich dazu Geschichten auszudenken, die sie nun als „Neue Sagen vom Wilden Kaiser“ veröffentlicht.
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