Meinte das Schicksal einen Schlag oder eine Chance? Marco verlor beide Arme, sah aber immer nur einen Weg – den nach vorne.
Keine Hände zu haben? Das ist für Marco Brandstätter kein Handicap! Eine unfassbar positive Einstellung trägt den 27-Jährigen seit einem Unglück durchs Leben – und durch die Luft. Am Wilden Kaiser unternahm Marco seine erste Skitour, die er sogar mit einem Abflug krönte – mit seinem Gleitschirm.
Zehn Wochen waren vergangen, als Marco wieder aufwachte. Durch das Krankenhaus-Fenster sah er sehr deutlich: Schnee. Merkwürdig, im November? Es dämmerte ihm. Die Elektrolyse und das Natrium-Gemisch, das in seiner Hand explodierte. Sein Körper, der in Flammen stand. Die Türe zur Dusche, um sich selbst zu löschen, die sich nicht mehr öffnen ließ. Seine Hände, sie waren nicht mehr da! Der Rauch wurde immer stärker. Er sah keinen Ausweg mehr. Marco, damals 19 Jahre jung, legte sich auf den Boden seines Hobby-Chemielabors und fand sich damit ab, jetzt sterben zu müssen. Nach einigen Minuten ließ der erste Schock nach. „Nein, so kann’s nicht enden“, dachte er sich, raffte sich wieder auf und fand die Treppe nach oben. Mit brennendem Körper flüchtete er aus dem Keller und wälzte sich draußen im Freien am Boden.
Die nächsten zehn Wochen vergingen wie im Flug. Ein Flug, bei dem er in einer Traumwelt lebte, jedes Zeitgefühl verlor und sein Leben an einem sehr, sehr dünnen Faden hing. Er war in künstlichen Tiefschlaf versetzt worden, sonst hätte sein Körper die Schmerzen nicht verkraftet. „Das war alles eine sehr knappe Nummer“, weiß Marco heute.
Als er wieder zu sich kam, waren ihm zwei Sachen sofort klar. Erstens: Das Leben geht weiter. Und zweitens: Es wird nicht schlechter werden. „Ich hab‘ das sofort akzeptiert und mir gedacht, dann wird es eben etwas spannender werden.“
Der Work-Life-Balance-Akt
Acht Jahre sind seither vergangen. Marco steht fest im Leben. Er hatte das Studium „Finanzierung und Management“ begonnen und daneben eine Firma gegründet, die mittlerweile sechs Mitarbeiter, darunter seine Eltern, beschäftigt. Mit den Marken TerraTherm (Hand-, Fuß- und Körperwärmer) und Fit-Flip (Outdoor Mikrofaserhandtücher) hat er einen erfolgreichen Online-Handel aufgebaut. Es sind Produkte, die ihm und auch anderen das Leben erleichtern sollen. Freizeit? Die gab‘s bei dem Jungunternehmer anfangs nicht. „Ich habe die ersten drei Jahre durchgearbeitet und dann aber gemerkt, dass ich langsam keine Kraft mehr hab, und dass die Arbeit nicht alles ist im Leben.“ Mittlerweile hat er seine Work-Life-Balance wieder geradegerückt. Er hat einen Ausgleich gesucht – und diesen beim Gleitschirmfliegen gefunden. An einem frühen Wintertag begleiteten wir ihn bei einer Hike&Fly-Tour auf die Hohe Salve. Es sollte ein bewegender Tag werden…
Wir treffen ihn in Söll und lassen die Nebeldecke, die sich über die Region Wilder Kaiser breitet, bald unter uns. Der Schnee glitzert und knirscht unter unseren Bergschuhen. Was für eine Winterlandschaft auf der Hohen Salve! Der Skibetrieb ruht noch, in aller Einsamkeit sehen wir den Wilden Kaiser beim Erwachen zu. Orange und winterlich weiß leuchten seine Wände, darunter ist das Tal unter einem wolkigen Wattebausch gebettet. Nur ob sich da heute überhaupt ein Wolkenfenster öffnen wird, durch das wir mit dem Gleitschirm fliegen können? Das Paragleiten ist mittlerweile zur allerliebsten Freizeitbeschäftigung des 27-jährigen Münchners geworden, er nützt so gut wie jedes Zeitfenster dafür. „In der Luft, da bin ich frei. Es ist eine ganz andere Welt dort oben.“
Nur Lust statt Frust
Gelernt hatte er das Fliegen bereits vor dem Unfall. Aber wie sollte er das danach ohne Hände anstellen? Leinen sortieren? Starten? Steuern? Landen? Es ist eine Sportart, die eigentlich viel Fingerarbeit und Feingefühl verlangt. Doch Marco fand andere Wege, stundenlang tüftelte er an Lösungen (das scheint eine weitere Lieblingsbeschäftigung von ihm zu sein). Frustmomente? „Die gab es kaum. Für mich zählte immer die Herausforderung und der Spaß daran.“ Die Steuerleinen des Gleitschirms hält er nicht wie andere Piloten in seinen Händen, sondern hat er mit Magnetverschlüssen an den Ärmeln seines Pullovers angebracht – von Mama angenäht.
Es ist kurz vor Mittag, als wir die 1828 Meter hoch gelegene Hohe Salve erreichen. Was für ein wunderbarer Aussichtspunkt! Über Söll hält sich der Nebel heute noch zäh – doch das Brixental lichtet sich. Der Wind, ein leichtes Lüftchen aus Süd, passt perfekt. Sollen wir gleich…? Anstatt auf ein Wolkenfenster auf der Nordseite zu warten, machen wir uns bereit für einen Abflug nach Hopfgarten. Die Hände und ein Drittel von Marcos beiden Unterarmen fehlen, dennoch legt er sein Segel aus und sortiert die Leinen – schneller und selbstständiger als manch andere Piloten. Würde man nicht genau hinsehen, würde es einem vielleicht auch gar nicht auffallen, dass hier ein Flieger ohne Hände am Werk ist. Für die Fotos lässt er seinen Gleitschirm noch eine Weile in der Luft tanzen, ehe er sorglos in den Himmel abhebt. Sein Grinsen ist breiter als der Wilde Kaiser lang ist, nachdem er wieder sanft am Boden aufgesetzt hat. So sieht ein Glückspilz aus.
Nur stehen wir Schwammerl jetzt allerdings auf der falschen Seite des Berges. Das Stadttaxi Ellmau hat Zeit und bringt uns schnell und unkompliziert zurück nach Söll. Hinauf geht’s, auf ein Neues! Diesmal machen wir etwas anders – wir steigen nicht zu Fuß, sondern mit Skiern auf. Skifahren – das kann Marco. Skitouren, das ist etwas Neues für ihn. Beim Sporthaus Edinger direkt an der Talstation leihen wir uns ein Tourenskiset aus. Skischuhschnallen schließen? Eine erste Hürde. Marco lässt sich gerne helfen. Das war nicht immer so. „Es ist immer mein Anspruch, alles auch selbstständig zu schaffen. Aber ich habe gelernt, dass man auch mal Hilfe annehmen darf.“ Die Skistöcke lehnt er dankend ab.
Besser ohne Prothesen fliegen
Marco hat zwar Prothesen, die sehr aufwändig und kostspielig an seinen Arm und seine Muskulatur angepasst worden sind. Beim Sporteln trägt er sie jedoch nicht. Durch das Schwitzen würden die elektrischen Sensoren nicht mehr richtig funktionieren, im schlimmsten Fall könnte er seine Hand gar nicht mehr „bedienen“. Anfangs hatte er die Prothesen auch beim Fliegen versucht, aber das ist ihm zu gefährlich. Auch durch den Alltag kommt Marco ohne diese künstlichen Hilfsmittel ganz gut. Die ersten vier Jahre nach dem Unfall hatte er sie sogar abgelehnt. „Ich hatte das Gefühl, das werden nie meine Hände sein.“ Heute sind sie vor allem beim Kochen und Autofahren nicht mehr wegzudenken für ihn. Doch zurück zum Skifahren: Beim Schließen einer Skischuhschnalle hatte er sich schon einmal einen Finger gebrochen – einen Finger seiner Prothese…
„Ich weiß zwar nicht, wie mein Leben ohne dem Unfall verlaufen wäre, aber ich könnte mir jetzt kein besseres vorstellen.“
Klick. Klaaack. Kliiick. Klack. Klick. Klack. Auch ohne Skistöcke findet Marco bald seinen Rhythmus – und wir ziehen am späten Nachmittag unsere Spuren nach oben. „Alles ist möglich, man muss es nur wollen“, das ist bei Marco keine Floskel, sondern seine Lebenseinstellung. Langsam spüren wir die Höhenmeter in den Beinen, und die Sonne neigt sich auch schon dem Ende des kurzen Tages zu. „Da oben, da könnt’s gehen.“ Vor dem Fliegen steckt Marco seine Wärmepads an die besonders kälteempfindlichen Körperstellen – und wir helfen ihm bei den Startvorbereitungen. Wir müssen uns beeilen, nicht dass es uns dunkel wird. Dazu leichter Rückenwind, den zwar Radfahrer mögen, aber keine Gleitschirmflieger. Doch Marco wirkt überzeugt. „Jetzt, jetzt passt es gut“, sagt er, stellt seine Skier in Falllinie und fährt die Piste Schuss bergab. Der Gleitschirm füllt sich schnell mit Luft – und nach wenigen Sekunden fährt Marco nicht mehr Ski, er fliegt. Wir sehen ihn davongleiten, die zwei Bretter an den Füßen baumeln und ein Juchizer hallt durch das menschenleere Skigebiet. Marco gleitet hinunter nach Söll und setzt am Parkplatz direkt neben seinem Auto auf. „Das war einfach einzigartig. Ich kam mir vor wie ein kleines Flugzeug, das sein Fahrwerk dabeihat, und musste nichts machen, außer mich hinzustellen. Wie auf Gleisen. Ein cooles Gefühl.“
Mit seinem Schicksal hadert Marco ganz und gar nicht, das bekräftigt er bei der Nachbesprechung mit Pizza und einem verdienten Landebier noch einmal. „Ich weiß zwar nicht, wie mein Leben ohne dem Unfall verlaufen wäre, aber ich könnte mir jetzt kein besseres vorstellen.“
Marlies Czerny war als erste Österreicherin auf allen 82 4.000er der Alpen - dabei hat sie ihre Leidenschaft für die Berge relativ spät und mehr oder weniger durch Zufall entdeckt. Aber: Was vor 12 Jahren mit einer kleinen Wanderung im Urlaub begann, sorgt inzwischen für zahlreiche Abenteuer und eine beeindruckende Bilanz: Die ehemalige Journalistin hat nicht nur die höchsten Gipfel der Alpen bestiegen und ein Buch darüber geschrieben, sondern widmet sich gemeinsam mit Seil- und Lebenspartner Andi Lattner komplett dem Bergleben - zusammen touren sie mit dem Bus, der mittlerweile die Wohnung ersetzt, an unzählige spannende Orte und erzählen als hochzwei.media in Wort und Bild über ihre Abenteuer.